Die Mediaperformance-Gruppe pulp.noir hat Gilliams Kultfilm «Brazil» für «Best of ewz.stattkino» noch einmal auf die Bühne gebracht: Ein Gesamtkunstwerk, gebastelt aus Synthi-Geräuschen, Melodien, Dialog-Fetzen und sehr wilden Videoclips. Der Wahnsinn.
Von Anna Rothenfluh
Irgendwo im 21. Jahrhundert: Die Leinwand flackert leicht, dann erscheint Terry Gilliam. Er ist stinksauer und motzt herum, was das denn soll, diese Leute auf der Bühne, die Musik machen und ihre eigenen Bilder in sein Werk schmuggeln, ob man nicht einfach seinen Film schauen könne, «fuck».
Leider nicht, lieber Terry. Jetzt übernimmt pulp.noir die Regie. Sie werfen ihre Bilder wie ein Laken über Gilliams «Brazil», reissen ihn auseinander, machen ihn zu etwas Neuem. Dazu kommt die Live-Performance: Ein Gewirr aus Stimmen, Dialog-Fetzen, Geräuschen, Beats, Synthesizern, Schlagzeug, Gitarre, Bass und dem Gesang von Joana Aderi. Ein Feuerwerk an Eindrücken ist das, kann man da nur sagen. Vollkommen still ist es während der ganzen Vorführung eigentlich nie. Ein Gesamtkunstwerk, das für manch einen vielleicht ein wenig überladen wirkt. Aber pulp.noir liefert hier eine ganz eigenwillige Interpretation des Stoffes, ohne dabei die Geschichte des Films zu verfälschen.
Diese achtköpfige Truppe hievt die beklemmende Atmosphäre des Films noch eine Ebene höher: Alles wirkt noch ein bisschen bizarrer, nervöser, bedrohlicher: Das Gefühl des Überwachtwerdens, die fliessenden Übergänge zwischen Sam Lowrys Traumwelt und der Wirklichkeit, das Gewusel der grauen Herren mit Hut im allmächtigen Informations-Ministerium. Irgendwie will man da raus, es ist laut, und die Bilder scheinen auch zu schreien, prasseln in einer fast ungehörigen Dichte auf den Zuschauer nieder. Und dann bleibt man, weil es sich lohnt.
Papier raschelt, da wird unterzeichnet, dort abgestempelt und irgendwann geht der Befehl raus, einen gewissen Heizungsinstallateur namens Tuttle aufgrund terroristischer Aktivitäten festzunehmen. Statt Tuttle wird aber ein unbescholtener Familenvater namens Buttle gefangen genommen und zu Tode gefoltert. Ein Tippfehler. Und das, obwohl das System doch gar keine Fehler macht.
Sam Lowry, ein kleines Rädchen im Getriebe dieses totalitären Überwachungssystems, wird mit der Informations-Wiedergutmachungs-Zahlung zur Witwe Buttle geschickt. Sie starrt ins Leere. Sie fängt an zu weinen. Lowry findet das nicht sehr hilfreich: «Ich hätte nicht kommen müssen, wissen Sie, Mrs. Buttle.»
So sind sie eben, die sogenannten Schreibtischtäter, die, solange alles unpersönlich bleibt, keine Probleme haben, ihre Unterschrift unter einen Fackel zu setzen, einfach zu funktionieren, zu arbeiten. Aber für die Konsequenzen, die sich am Ende aus dieser ganzen Kette von Arbeitsabläufen ergeben, sieht sich niemand verantwortlich.
«Das System besteht nicht aus grossartigen Führern, die es kontrollieren. Es besteht aus einzelnen Menschen, die einfach ihren Job tun, als kleines Zahnrad.»
Terry Gilliam
Als Lowry Jill sieht, die schöne Frau aus seinen Träumen, verliebt er sich im Nullkommanichts in die Lastwagenfahrerin. Und er will sie retten vor dem System, für das er arbeitet und das sie sucht.
Das Dilemma lässt sich nicht auflösen. In dieser totalitären Welt ist man entweder für oder gegen das Informations-Ministerium. Sam, der sich irgendwo dazwischen bewegt, wird nun also gefangen genommen und von seinem «Freund» Jack – in einer widerlichen Baby-Maske –gefoltert.
Sam beginnt zu fantasieren, findet sich auf einmal auf einer Beerdigung wieder, der Priester brabbelt etwas vom ewigen Leben, im Sarg liegt eine verweste Leiche. Dann kriegt er einen Tobsuchtsanfall: «Das ist nicht meine Welt. Ihr seid verrückter als ich es bin.»
Um dieser «innerlich verfaulten Welt» zu entfliehen, wird Lowry wahnsinnig. Es scheint sogar fast so, als hätte er sich bewusst dafür entschieden.
«Sam entkommt dieser Welt, indem er wahnsinnig wird. Ich begann diesen Film mit der Frage im Hinterkopf, ob man einen Film machen könne, bei welchem das Happy End im Wahnsinn liegt.» Terry Gilliam
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