Fabelhaftes Tier
Neue Zürcher Zeitung, 09.10.2006
“Jitterbug” von “pulp.noir” im Blauen Saal
Eine Libelle ist zuerst Larve, dass Puppe, dann Imago (falls kein Gefressenwerden dazwischenkommt). Wenn sie in “Jitterbug”, einer Produktion der jungen Züricher Gruppe pulp.noir, die Ehre des Leitmotivs hat, so ist doch der Titel- bzw. der Zitterkäfer offenbar ein ganz anderes Tier. Seine Verwandlung geschieht nicht chronologisch, er kann alles gleichzeitig. Die “Bühneninstallation für Schauspiel, Gesang, Gitarre, Kontrabass, Schlagzeug, Sampler und Video”, die den diesjährigen Schweizer Förderpreis Premio gewonnen hat und am Donnerstag erstmals im Blauen Saal zu sehen war, kreist um das Thema der Metamorphose. Dabei wird aber dieses Ereignis in der Zeit in ein synchrones Geschehen im Raum verwandelt. Protagonistin ist eine halbdurchsichtige Leinwand. Ihre Farbe ist blau, sie spielt auf das Bluescreen-Verfahren an, mit dem in Aufnahmestudios künstliche Hintergründe erzeugt werden. Sie setzt die Bühne in die Mehrzahl, denn sie schafft einen Raum davor für die Musiker, einen Raum dahinter für die Auftritte des applaussüchtigen Mannes mit Eheüberdruss (Kenneth Huber) und ist zudem selbst Projektionsfläche für Parallelwelten. So zupft Herbert Kramis hingebungsvoll auf seinem Kontrabass und poliert zugleich auf der über die Szene gespannten Leinwand eine Säge, als könnte er sich auch ein anderes Instrument vorstellen. Es herrscht aber nicht einfach Arbeitsteilung zwischen einem harten Bühnenboden der Realität und einer luftschlösslichen Welt der Projektionen. Die Grenzen von Gegenwärtigem, Geschehenem und Geträumtem bringt das Stück geschickt zum Verschwimmen. Oder liegt dies bloss am eigenen Blick? Trunken von den Tönen und Rhythmen der Jazz-Formation, hat vielleicht auch das Auge nicht mehr kühl hingeschaut.
Christine Weder
Stop Making Sense
Tages Anzeiger, 07.10.2006
Die Gruppe pulp.noir feierte mit ihrem Stück “Jitterbug” im Blauen Saal in Zürich Premiere.
So sollten alle Inszenierungen beginnen. Man bestellt sich an der Bar ein Bier, stellt sich irgendwo ins Foyer und blickt auf die angrenzende Bühnenrückseite, wo die Schauspieler und Musiker nach und nach in Position gehen. Sie hantieren mit Plattenspielern, deren Laufgeschwindigkeit sie manuell manipulieren, wodurch allmählich ein feiner Geräuschteppich entsteht. Dann wandert das Publikum um den zentralen Bühnenkorpus herum und setzt sich auf der anderen Seite in die Ränge.
Die vier Musiker haben sich nun vor der Bühne an den Instrumenten positioniert. Hinter ihnen hängt eine halbtransparente Leinwand, hinter der sich wiederum der eigentliche Bühnenraum befindet, wo Schauspieler Kenneth Huber agiert. Sie Requisiten sind spärlich: ein Fahrrad, ein verchromtes Garderobenwägelchen, ein paar Sitzgelegenheiten und eine Discokugel. In diesem Setting setzt Huber an zur grossen “Greg Samba Show”, einem mehrfach ge- und durchbrochenen Comedy-Monolog voller Selbstzweifel und Tragik, die immer wieder behelfsmässig mit der Bemerkung “That’s entertainment” weggewischt werden. Die Musiker im Vordergrund improvisieren dazu einen Soundtrack aus sphärischen Klängen und jazzigen Nebengeräuschen, währen über die Leinwand immer neue Bilder flimmern.
Eine stringente Geschichte sucht man bei “Jitterbug” vergeblich. Vielmehr stellt die Inszenierung ein dreidimensionales Inspirationslayout dar: wirre Konzentrationskunst, die mit multimedialer Reizüberflutung und etwas ratlos verwalteter Gleichzeitigkeit arbeitet. Eigentlich passt hier nichts wirklich zusammen, aber da halten sich pulp.noir wohl bewusst an jenen Imperativ, den die Talking Heads 1984 formulierten: “Stop Making Sense”. Dafür gelingt dem Ensemble nach dem bequemen Beginn auch ein optisch beeindruckendes Finale, das an dieser Stelle natürlich nicht verraten wird.
Philippe Amrein
Innere Inventur
Züritipp, 05.10.2006
Mit “Jitterbug” bringt die Theatergruppe pulp.noir ihr drittes Projekt auf die “Bühne”, die unter einem flirrenden Formatspektakel aus Schauspiel, Musik und Multimedia rein strukturell schon aus allen Fugen gerät.
Die klassische Situation ist bekannt: Ein illustrer Kreis von feinsinnigen Kulturinteressierten setzt sich in dezent beplüschte oder imprägniert verholzte Sitze, plaudert gedämpft über die Komplexität des Kommenden und stellt sich mental auf eine knapp zweistündige Veranstaltung ein, die man danach munter sinnierend und parlierend verlässt, um dann irgendwo noch einen letzten Drink zu sich zu nehmen und die gerade genossene Vorstellung mit viel verbalem Brimborium Revue passieren zu lassen. Oder wie der Volksmund zu sagen pflegt: “So geht Theater.”
Dass Theater eben genau nicht so gehen muss, beweist die Gruppe pulp.noir seit ein paar Jahren. Mit ihren Stücken “Remix Kafka” und “Deacon Blues” hat sie gezeigt, dass auch abseits der linearen Stückeschreiberei inspirierende Theaterarbeit möglich ist. Denn die kreativen Menschen hinter den Produktionen setzen sich längst nicht mehr bloss an den unaufgeräumten Schreibtisch in der abgedunkelten Klause, um dort ein psychologisch stringentes Drama in die Maschine zu tippen, wie Regisseurin Julia Morf erklärt: “Man geht einfach mit offenen Augen durch die Welt, liest viel, schaut sich Filme an, hört Musik und lässt sich davon inspirieren.” Ob nun im Hintergrund eine Platte von Keith Jarret läuft, während gerade eine belanglose Talkshow über die Mattscheibe flimmert, ist egal. Was zählt ist der unmittelbare Eindruck – und eben das, was man aus ihm macht.
Träume und Texte
Bei “Jitterbug” geht es darum, zwischen den nach strenger ästhetischer Logik verwobenen Kleintieren des Zeichners M.C. Escher, dem verwirrten Käfermenschen Gregor Samsa aus Franz Kafkas Erzählung “Die Verwandlung” und dem Publikumsneurotischen Robert De Niro in “The King of Comedy” diverse szenische und akustische Fäden zu spannen. Die Band wabert durch ihre Klangstrukturen, die Schauspieler konfrontieren sich gegenseitig mit Traum- und Textfragmenten, die in jedem Moment lose bleiben und je nach Befindlichkeit und Bedarf improvisiert werden. “Es geht um Stimmungen und Bilder”, so die Regisseurin, “und die darf man als Zuschauer zurechtbiegen, genau studieren oder einfach ausblenden.”
Mit einer beliebig angeordneten Strukturlosigkeit hat man es hier freilich nicht zu tun, denn die thematischen Vorgaben sind verbindlich. Dahinter steckt natürlich eine innere Inventur, die das Projektteam durchgeführt hat. Sämtliche Eindrücke aus Mediengegenwart und kreativer Interpretationsrealität werden hier zu einem interaktiven Komplex verdichtet, nach dessen Inspektion bloss noch eine Schlussfolgerung übrig bleibt: “Auch so geht Theater.”
Philippe Amrein
L'O, Wassermusik im eigentlichen Sinn
Mittelland Zeitung, 29.09.2006
KUNSTEXPANDER Die Zweitauflage des Aarauer Festivals startete auf dem Kirchplatz und im Theater Tuchlaube.
Zum zweiten Mal nach März 2005 veranstalteten Theater Tuchlaube und Kunstraum Aarau den “Kunstexpander”, jenes Festival, das Grenzen ausloten, Gegensätzliches in Kontakt, Selbstverständliches durcheinander und Unscheinbares ins Rampenlicht bringen will. Experimentell und performativ werde es sein, versprach Judith Huber, die das Programm präsentierte. An vier Tagen sollen bildende Kunst, Tanz, Theater, Video, neue Medien, Musik und Elektronik vielfältige Verbindungen eingehen.
(…)
Anschliessend prozessionierte das Publikum ins Theater Tuchlaube, wo pulp.noir aus Zürich “Jitterbug” präsentierte, eine Bühneninstallation für Schauspiel, Gesang, Gitarre, Schlagzeug und Video zum Thema Metamorphose, der Wunsch nach Veränderung, der Versuch der Verwandlung und der Rückzug in eine konstruierte Parallelwelt. Nicht von ungefähr liess man dabei auch Franz Kafkas “Verwandlung” anklingen. Ein weiteres zentrales Element war der Bluescreen, ein Projektionsverfahren, das künstliche Hintergründe in Aufnahmestudios schafft.
“JITTERBUG” war durch die verschiedenen Ebenen extrem vielschichtig und assoziativ, durchaus tiefsinnig, dazwischen auch witzig. Mehrmals wurde mit den Erwartungshaltungen des Publikums gespielt. Schauspieler und Musiker agierten souverän, die Technik gab sich keine Blösse. So erstaunt es nicht, dass pulp.noir mit dieser Installation den Schweizer Nachwuchswettbewerb Premio gewonnen hat. Die beiden Veranstaltungen waren gut besucht, was auf ein erfreuliches Interesse an experimenteller und avantgardistischer Kunst schliessen lässt.
Stephan Thomas
Über theatrale Grenzen hinaus
Aargauer Zeitung, 15.05.2006
PREMIO Der Schweizerische Förderpreis für junges Theater geht an ein multimediales Projekt der Gruppe pulp.noir.
Es ist kein Leichtes, eine Tendenz im Schaffen des Schweizer Theaternachwuchses auszumachen. Dieter Sinniger, Leiter des Aargauer Tuchlaube-Theaters und Gastgeber des Premio-Finales, aus dessen Anlass am Samstag fünf von ursprünglich dreissig Projekteingaben skizzenhaft zu sehen waren, registriert in der neuen Generation ein ausgeprägtes Gespür, mit Medien aller Art umzugehen. “Es gibt einen Drang zur Multimedialität, einen Wunsch, sich jenseits klassischer Erzählweisen mit den verschiedensten Mitteln auszudrücken und mit diesen Ausdrucksmitteln lustvoll zu experimentieren.” Dieses Phänomen entspringe nicht naiver Technikverliebtheit, präzisiert Sinniger, vielmehr entspreche es den Erfahrungen einer Generation, die sich in ihrer alltäglichen Lebenswelt beinahe unausweichlich mit Medien aller Art konfrontiert sieht.
Sinnigers Einschätzungen finden sich denn auch gespiegelt in den drei Projekten, welche die Premio-Jury mit dem Förderpreis für junges Theater bedachten. Nicht die bilderstürmerisch respektlose Auseinandersetzung mit einem klassischen Stoff fand Berücksichtigung (goetz/graffen/falkenhahn aus Zürich mit “Ein Stück Kabale und Liebe nach Friedrich Schiller”). Nicht die stille Tanzperformance, die auf den Körper und die ihn treibenden Kräfte konzentriert (Irina Müllers “intimate outside”). Bevorzugt wurden zu Recht verspielte, mit verschiedensten Medien experimentierende Projekte, die Formen, Möglichkeiten und Grenzen des theatralen Spiels auszuloten sich anschickten.
Etwa die mit dem dritten Preis ausgezeichnete Bieler Gruppe “Cie Frank”: In “Zum Mond! / Vers la lune!” begleiten Powerpoint-Präsentationen, Falsett-Gesänge und Wortgefechte eine erfrischend komische Wissenschaftsshow um das Thema des drohenden ökologischen Kollapses. Die zweitplatzierten Bieler Tänzerinnen Astrid Schlaefli und Claire Valat wagen sich dagegen in die seelischen Niederungen eines Geschwisterpaars, das sich in eine musikalische Wahnwelt eingeschlossen hat und darin ein mörderisches Spiel treibt. Umgeben von einer Menge von Musikkassetten, schneiden sie sich, bewaffnet mit Metzgermesser und Wäscheklammern, ihre Lieblingspassagen aus Schuberts Rosamunde-Streichquartett zusammen, spielen Musikstücke oder tanzen Ballettschritte oder sprechen monoton aufgesprochene Stimmen nach, um sich immer wieder gegen die medialen Vorgaben vom Tonband aufzulehnen und in Ausbrüchen unheimlicher Gewalt alles zu zerstören, sich selbst nicht ausgenommen.
Verdientermassen gewann das wohl gewagteste Projekt des Wettbewerbs, “Jitterbug” der Zürcher Gruppe pulp.noir, den Siegerpreis von 20’000 Franken. In einem beeindruckend präzis gebauten Konglomerat aus Musik, Projektion, Szene und Sprache, in dem die eingesetzten Medien schwebend ineinander wirken, umkreisen vier Musiker und ein Schauspieler die fragile Welt des Stars und seiner Suche nach Ruhm. Dadurch stehe, wie die Jury schreibt nicht nur die Rolle des Darstellenden, sondern auch die Rolle des Publikums im Blick. In der Tat: Getragen von leichtfüssigen Sounds des Jazz, berührt das Projekt das Grundverhältnis theatraler Gegebenheiten und verführt – im bestmöglichen Fall – durch den gezielten Einsatz von Medien zu einer Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen von Theater.
Der Ausgang des Premio-Finals in der Ausgabe 2006 gibt Dieter Sinnigers unentwegten Bemühungen um den Schweizer Theaternachwuchs Recht. Nicht nur, dass er verdienstvoll die Bühne der Aargauer Tuchlaube als Laboratorium zur Verfügung stellt. Er ermöglicht es auch dem Publikum, eine Kontinuität zu einer jungen, aufstrebenden Generation herzustellen: Die letztjährige Siegergruppe “FarADayCage” wie auch pulp.noir werden in der nächsten Spielzeit zu sehen sein.
Benno Wirz
Premio-Laudatio
13.05.2006
Premio-Jury
Fünf junge Tanz- oder Theatergruppen sind am Samstag, 13. Mai 2006 im Theater Tuchlaube, Aarau zum Final um die Vergabe des Premio – Förderpreis angetreten. Zu sehen war „work in progress“ von professionell arbeitenden Gruppen oder Einzel-künstler/-innen, die in kurzen „20 Minuten in Szene“ Einblick in ihr Schaffen geben konnten.
Eine Jury, zusammengesetzt aus Kultur- und Theaterleuten, bestimmte aufgrund der Präsentationen die Siegerin oder den Sieger. Sie vergab folgende Preissumme: 1. Preis Fr. 20.000, 2. Preis Fr. 5.000, 3. Preis Fr. 2.000
Aus der Begründung der Jury:
1. Preis: „Jitterbug“ der Gruppe pulp.noir, Zürich (Thomas Fischer, Julia Maria Morf). Die Jury war vor allem beeindruckt vom gelungenen Zusammenspiel von Musik, Sprache, Video und Schauspiel. Speziell ist, dass bei diesem Projekt alle ästhetischen Formen genau gleichberechtigt sind. Im Gegensatz zu anderen Multimedia-Projekten, die sehr oft das Publikum mit Eindrücken überfluten, schafft es pulp.noir, das Publikum mit seinen Geschichten, Klängen und Bildern hellwach und neugierig zu machen. Jede der einzelnen Ebenen wird differenziert wahrgenommen und fügt sich zu einem geschlossenen Ganzen.
Thematisiert wird ein zentrales Thema des Theaters: Die Suche nach Erfolg, Ruhm, Applaus. Damit steht neben der Rolle des Darstellenden auch die Rolle des Publikums zur Diskussion. Die ganze Produktion ist auch deswegen ein Genuss, weil sie mit unverkrampfter Leichtigkeit daherkommt. Jazz eben.
Der 2. Platz belegte die Compagnie Schlaefli/Valat, Bienne (Astride Schlaefli, Claire Valat) mit „les rituels barbares“.
Der 3. Platz ging an die Cie. FRAKT’, Biel mit dem Stück „Zum Mond!/Vers la lune!“
Jury war: Christoph Haering, Annette Rommel, Elias Perrig, Barbara Riecke, Christina Thurner.
Getragen wird der Preis von 14 Schweizer Theatern oder Förderinstitutionen. Er hat zum Ziel neue, junge Ensembles zu fördern, die am Beginn ihrer Theaterlaufbahn stehen.
Der Premio Förderpreis wird jährlich vergeben: Eingabefrist für den Premio 2007 ist der 1. Januar 2007. Teilnehmen können Theater- und Tanzschaffende in der Schweiz, die nicht mehr als drei Jahre Bühnen- oder Regieerfahrung in der professionellen Theater- oder Tanzszene haben.
www.premioschweiz.ch